Texte

Werkkommentare (Auswahl)

energeia aphanés III - physis (2019)
String III - Branes (2019)
Staubaggregation (2017)
A Blurring Cloud – Geschöpfe der Fahrt (2011/ 2012)
String II - Graviton (2015/ 2016)
Enigma - vom Zauber der entgegengesetzten Denkweise
hommage à Friedrich Nietzsche
(2005)
Dark Matter (2011)
Achronon (2008/2009)
anisotropie - (vier) (aggregat)-zustände für Klavier (2001)
energeia aphanés I (2013)
Meister Eckhart und Suhrawardi: Der Klang der Schwinge des Gabriel - hikmat al-ishraq (2017)
Momentaufnahmen / Caprichos – Reflexionen zu Goya ... und darüber hinaus ... (2004)
Anamorphosis II (-Polymorphia) (2002/03)
temps et couleurs I (1995)
Ekstare (1988/ Neufass. 1990)
Satori - 5 Haiku (1999)
Inside ... out (1997)
Interdependenzen (1997/98)
Substanz und Akzidenz - ein Capricho in Anlehnung an Francisco de Goyas 'Nadie se conoce' (2003)
Streichtrio - le son d'un monde secret et couvert (1994)
atremia - Phasen der Stille (1999)

Publikationen

Bibliographie



Werkkommentare

energeia aphanés III - physis (2019)

Energeia aphanés ist als ein größerer Werkzyklus aus mehreren voneinander völlig unabhängigen Werken unterschiedlichster Besetzung konzipiert, die sich auf jeweils sehr verschiedene Art und Weise mit Aspekten des rätselhaften Phänomens Dunkler Energie auseinandersetzen bzw. diese zum Ausgangspunkt der jeweiligen Komposition machen. Dunkle Energie dient in der Astrophysik als hypothetischer Erklärungsversuch der beobachteten zunehmenden Ausbreitungsgeschwindigkeit des Universums, die ansonsten in deutlichem Widerspruch zu den gravitativen Effekten durch die Materie steht. Dabei konnte ihre Existenz bisher nicht nachgewiesen werden, sie selbst entzieht sich also jeglicher Beobachtung, bestimmt jedoch ebenso wie dunkle Materie ganz wesentlich die raumzeitliche Struktur des Universums. In der Komposition wird diese Vorstellung gleichsam zum Sinnbild einer musikalisch ästhetischen Welt, deren eigentliche Steuerungsprinzipien konsequent im Verborgenen bleiben, deren Resultate jedoch die Erfahrungswelt bestimmen. Raum, Zeit und die Vorstellung von Zeit-Auflösung, wenn man so will von der Ahnung einer Art Metazeitlichkeit spielen dabei eine zentrale Rolle.

In energeia aphanés III – physis tritt zu diesen Aspekten noch eine unmittelbar körperliche Komponente hinzu, die, vordergründig betrachtet, zunächst in einem gewissen Widerspruch zur Vorstellung von Dunkler Energie zu stehen scheint, sich im Verlauf der Komposition jedoch als eine deren wesentlichen Dimensionen erweist.

So wird bereits zu Beginn des Werks die Antinomie von radikaler Materialreduktion auf den Ton h und dessen schattenhaften Umschweifungen bei einer gleichzeitigen extremen Dichte interagierender, zumeist expressiver Gestalten als eines der wesentlichen struktur- und formbildenden Elemente evident …

… eine Entwicklung aber, die am Punkt ihrer größtmöglichen Zuspitzung jedoch plötzlich umkippt in eine scheinbar völlig neue Welt unmittelbar kammermusikalischer Interaktion und deren auskomponierten Resonanz …

… plötzliche und völlig unerwartete Winkelzüge der Form, die immer wieder neue Struktur- und Wahrnehmungsräume öffnen und sich m Ende dennoch als Teil eines kohärenten Ganzen erweisen bis hin zu einer Art Auflösung von Raum und Zeit im Mittelteil der Komposition …

… und schließlich an deren Ende … Zerfließen, Entschweben …

energeia aphanés III – physis ist ein Kompositionsauftrag des via nova Ensemble, Weimar und der Ernst von Siemens Musikstiftung und dem via nova Ensemble gewidmet.

Michael Quell

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String III - Branes (2019)

String III - Branes ist der dritte Teil eines größer angelegten Werkzyklus aus vier selbständigen, voneinander völlig unabhängigen Stücken, von denen jedes von jeweils unterschiedlichen Aspekten der Stringtheorie angeregt ist.

Nach der Stringtheorie, dem aktuell einzigen physikalischen Theorem, das alle vier Elementarkräfte (Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft und Gravitation) zu vereinen vermag, bisher jedoch rein hypothetisch ist, gehen, stark vereinfacht gesagt, alle Materieteilchen sowie alle Wechselwirkungen auf kleinste eindimensionale Grundbausteine, die strings zurück, die sich am ehesten als winzige schwingende Fäden vorstellen lassen. Je nach Schwingungszustand der strings generieren diese die unterschiedlichen Materieteilchen und letztlich auch die Eichbosonen, die Voraussetzung für die vier Elementarkräfte. Mathematisch führt dieses Modell zu einem 11-dimensionalen Universum.

Künstlerisch faszinierend empfand ich dabei die Vorstellung, aus einem einzigen, winzigen Urelement heraus nach und nach die ganze Vielfalt des hochkomplexen Werkkosmos zu gebären und zwar innerhalb eines multiplen, vielfach verzahnten Prozesses, der immer differentere Konglomerate (Branen) entwickelt und dabei immer wieder in völlig neue, ungeahnte Klangräume führt, die, so extrem verschieden sie auch sind, sich doch letztlich auf dieses Element zurück führen lassen.

So steht am Beginn des Werks – quasi als `Urschwingung´- ein einziger Ton in der extrem hohen Lage des Klaviers, g4, der sich nach und nach immer weiter mit sich selbst verzahnt und schließlich eine komplexe fluktuierende Netzstruktur entwickelt, die jedoch im Moment ihrer maximalen Dichte plötzlich und völlig unerwartet in eine völlig neue Struktur quasi `umkippt´, die von einer sehr dichten kammermusikalischen Interaktion der drei Instrumente und deren jeweiligen `Resonanz´ geprägt ist.

… oder die `Fantasie über den Ton Kontra D´, die sich innerhalb eines subtil ausgestalteten Prozesses in ein hochgradig differentes Klanguniversum auswächst, um dann urplötzlich in eine äußerst dichte Textur mit gänzlich zurück gedrängter Tonhöhe zu münden, die Randbedingungen der jeweiligen Ton-/Klangerzeugung auslotend …

… oder etwa in der, von subjektiver Zeitdehnung und quasi-Zeitauflösung bestimmten `Klangsinfonie´ des Mittelteils …

… maximal weit gespannter Horizont zwischen strudelartiger Verdichtung und dem Zerfließen von Zeit, der zugleich ständig neue Universen öffnet … und am Ende dennoch ein kohärentes Ganzes entstehen lässt.

String III – Branes ist ein Kompositionsauftrag der Stadt Fulda anlässlich des 1275-jährigen Stadtjubiläums für das Thin Edge New Music Collective und diesem Ensemble gewidmet.

Michael Quell

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Staubaggregation (2017)

Staubaggregation – durch ein multiples Wechselspiel (zufälliger) Zusammenstöße, spezifischer Magnetfeldbedingungen und mikrogravitativer Prozesse bewirkte Verdichtung kosmischer Kleinstpartikel als Bedingung der Genese planetarer Objekte.

Hier im musikalischen Werk quasi bildhaft wirksam als hinter der Erscheinung der Dinge stehende Kraft (und durchaus auch als eine Art ‚Gesetzmäßigkeit‘), die immer wieder Prozesse der Aggregation des musikalischen ‚Protomaterials‘ und somit die Geburt musikalischer ‚Identitäten‘ und ‚Gestalten‘ bewirkt, jedoch natürlich nicht als ein etwaiger linearer, einfach nur akkumulierender Prozess, sondern in ständig sich wandelnde Aggregate/Zustandsformen mündend. Die Faszination des Bildes der Aggregation wird hier also ganz bewusst in eine beinahe numinos anmutende musikalische Welt multipel miteinander interagierender Netze diverser Ausgangsmaterialien und damit in die Multikausalität hinein geöffnet.

Michael Quell

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A Blurring Cloud – Geschöpfe der Fahrt (2011/ 2012)

„Denn nur Geschöpfe der Fahrt sind wir
und unsere Gestalt ist Fluktuation.
Zerrauschene Wolke.“ (Botho Strauss „diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war“)

Die Vorstellung fluktuierender Existenz als Impulsgeber einer faszinierenden denkerisch-ästhetischen Welt multipel vernetzter und subtilst verästelter dynamischer, sich in ständiger Veränderung befindlicher Strukturen, Klangwelten und Systeme… die Komposition gleichsam auf allen Ebenen durchziehend: auf mikrostruktureller Ebene etwa in Gestalt fluktuierender Klangflächen und zwar in der ganzen Bandbreite – zum einen sich prozessual entwickelnd, zum anderen aber auch statisch-mechanistisch mit streng fixiertem Material, dessen Kombinatorik sich jedoch stets wandelt und natürlich solchen Prozessen, die beide Prinzipien nicht mehr als Antinomie begreifen, sondern gleichzeitig wirksam werden lassen, die tradierte Antinomie dabei gewissermaßen aufhebend um an deren Stelle eine neue, quasi ‚Hyperstruktur’ entstehen zu lassen.

Auf der Makroebene findet sich dieses Prinzip etwa in Gestalt der komplex verschachtelten Form, multipler, ineinander verzahnter binnendramaturgischer Prozesse wieder, dabei ganz bewusst den Bogen bis hinzu einer Art ‚Auflösung der Zeit-Kategorie’ spannend...

So tritt zu Beginn der Komposition die vordergründig scheinbare Primäridee des Werks – Impuls und dessen Nachklang – offen zutage und zwar zunächst auf der unmittelbaren Ebene des Instruments, wobei der impulshafte Anschlag am Klavier als Initiation der Resonanz des gesamten Instruments fungiert … dann unmittelbar schrittweises Auskomponieren des ‚Nachklangs’ bis hin zu einem komplexen fluktuierenden ‚Hyperklang’- Netz, das dann aber sogleich abreißt, um in ein neues, nun durch eine ausgestaltete Flageolettfigur des Klaviers initiiertes Fluktuationsfeld zu münden …
… dabei immer stärkeres Wirksam-Werden der Fluktuation als das eigentlich grundlegende Strukturelement des Werks und schließlich beide sich mehr und mehr gegenseitig durchdringend und zugleich sich wechselseitig bedingend …
Im Mittelteil dann eine Art Dekomposition der Kategorie Zeit, ein ‚Aus-der-Zeit-Fließen’ …
…schließlich: Reduktion auf einen einzigen Ton (h) … dem nur scheinbaren vollkommenen Stillstand, doch zugleich maximale innere Diversifikation, Ausgestaltung auf quasi subatomarer Ebene, die nach und nach in wellenartigen Umlagerungen sich prozessual immer mehr auch in die Makrostruktur auswächst und schließlich am Punkt plasmaartiger Verdichtung – Zeit und Raum hier quasi als Grenzwert gegen Null denkend – in der plötzlichen scheinbaren Zersplitterung der Struktur ein multiples Netz innerer komponierter Sinnbeziehungen zum Vorangegangenen entfalten und so ein kohärentes Ganzes entstehen lässt.

Dabei resultiert die spezifische Intrumentalbehandlung ganz konsequent aus eben diesem kompositorischen Ansatz. Dementsprechend entspringen z.B. die zahlreich verwendeten im Flügel zu realisierenden Techniken keineswegs etwa einer angestaubten Selbstgenügsamkeit des Effekts o.ä., sondern erfolgen aus der inneren Notwendigkeit der Werkstruktur heraus. So ermöglichen z.B. die durch Abgreifen jenseits der ‚normalen’ Flageolettpunkte im Flügel erzeugten komplexen multiphonen Teiltöne erst die für dieses Werk spezifische, charakteristische auf dem 3/8-Abstand beruhende mikrotonale Harmonik. Die Instrumentation geht dabei den Weg, die spezifischen Charakteristika dieser Besetzung nicht primär als ein aus physikalisch-akustischer Sicht beinahe grenzwertig lösbares Problem aufzufassen, sondern die ganz offenkundig sehr speziellen Eigenheiten ebendieser Formation umgekehrt vielmehr als geradezu einzigartige Chance zu begreifen, eine solche ganz eigene, hochspezifische singuläre Werkstruktur und –ästhetik erst zu ermöglichen.

A Blurring Cloud ist ein Kompositionsauftrag des Barlow Endowment at Brigham Young University und wurde mit dem Barlow Commissioning Award ausgezeichnet. Es ist dem StrungOut Trio (Beth Ilana Schneider, Violine, Matthew Gould, Gitarre und Nathanael May, Klavier) gewidmet.

Michael Quell

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String II - Graviton (2015/2016)

String II – Graviton ist der zweite Teil eines größer angelegten Werkzyklus aus vier selbständigen, voneinander unabhängigen Stücken, von denen jedes von jeweils unterschiedlichen Aspekten der Stringtheorie angeregt ist.

Nach der Stringtheorie, dem aktuell einzigen physikalischen Theorem, das alle vier Elementarkräfte (Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft und Gravitation) zu vereinen vermag, bisher jedoch rein hypothetisch ist, gehen, stark vereinfacht gesagt, alle Materieteilchen sowie alle Wechselwirkungen auf kleinste eindimensionale Grundbausteine, den strings zurück, die sich am ehesten als winzige schwingende Fäden vorstellen lassen. Je nach Schwingungszustand der strings generieren diese die unterschiedlichen Materieteilchen und letztlich auch die Eichbosonen, die Voraussetzung für die vier Elementarkräfte, wie etwa das gravitationsvermittelnde Graviton. Mathematisch führt dieses Modell zu einem 11-dimensionalen Universum.

Künstlerisch faszinierend empfand ich dabei die Vorstellung, aus einem einzigen, winzigen Urelement heraus nach und nach die ganze Vielfalt des hochkomplexen Werkkosmos zu gebären und zwar innerhalb eines multiplen, vielfach verzahnten Prozesses, der dabei immer wieder in völlig neue, ungeahnte Klangräume führt, die, so extrem verschieden sie auch sind, sich doch letztlich auf dieses Element zurück führen lassen.

So erwachsen z.B. im ersten Teil des Werks, der einer Art `Geburt der Tonhöhe´ entspricht, aus dem flächigen, völlig planen Rauschen (einer Art „Uratem“) des Beginns und dessen zunächst scheinbar rein kammermusikalischen Interagieren nach und nach Felder mannigfaltigster Geräuschfluktuation, in die sich prozessual immer mehr Ton-Anteil mischt, um schließlich in einem, sich immer mehr verdichtenden (Zeit-) Strudel maximaler Gravitation jäh zusammen zu brechen und dabei völlig unerwartet – quasi als Resonanz – den Ton a2 in unverfremdeter Klarheit in den (Welten-) Raum zu schleudern …

… bis dieser dann selbst wiederum neue Schwingungsnetze entwickelt.

… faszinierende Vielfalt immer wieder neuer Klanguniversen und multipler energetischer Prozesse …

… um am Ende das gehaltene Kontra-C des Kontrabasses und das d5 der Violine aus dem Geschehen herauszuschälen

… sozusagen maximale Weite des Horizonts bei gleichzeitigem Auflösen der Zeit …

String II – Graviton ist ein Kompositionsauftrag der Wigmore Hall mit freundlicher Unterstützung von André Hoffmann, Präsident der Fondation Hoffmann, Schweiz , und des Ensemble Modern und wurde vom Ensemble Modern am 17.03.2016 in der Wigmore Hall, London uraufgeführt.

Michael Quell

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Enigma - vom Zauber der entgegengesetzten Denkweise (2005)
hommage à Friedrich Nietzsche

"Tiefe Abneigung in irgend einer Gesamt-Betrachtung der Welt ein für alle mal auszuruhn; Zauber der entgegengesetzten Denkweise; sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen." (Friedrich Nietzsche)

Gedanklicher Ausgangspunkt der Komposition sind Kerngedanken Nietzsches kritischer Erkenntnistheorie bzw. genauer dessen fragmentarischer gedanklicher Ansätze, Bestandsaufnahmen, die aus dessen kritischer Auseinandersetzung mit der seinerzeit als ungebrochener Konsens geltenden Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie und -Methodik resultieren und die in dessen fragmentarischem, aphoristischem Spätwerk in besonders zugespitzter Form zum Ausdruck kommen.

So bildet z.B. die Ambivalenz zwischen vorbegrifflicher Weite einerseits und der Konkretion im Begriff, einem sich -Bemächtigen von vermeintlicher Wirklichkeit im Begriff, die aber zugleich mit Redundanz und Wirklichkeitsverlust einhergeht, andererseits, die eigentliche Grundidee der Komposition, den ursprünglichen Impulsgeber, der das kompositorische Geschehen des Werks in Gang setzt und substantiell bestimmt ... und damit einhergehend die immer wieder bestimmende Ambivalenz zwischen klarer Struktur und Konstruktion und dem Verdecken, Verbergen des strukturbildenden Prinzips ...

Zugleich fungiert zudem das ständige (mentale) Ringen zwischen der Gefangenheit bzw. strengen Gebundenheit in operationalistisch - mechanistischen Systemen und den immer wieder erfolgenden vermeintlichen Befreiungen des Subjekts als grundsätzliche strukturbildende Kraft im Werk ...

... Grenzüberschreitung ... Loslösung ...

Entdecken und Eröffnen eines neuen Raumes ... des Klanges, der Farbe, der Struktur ...

... so z.B. in den beiden Git.-arco-Klangfeldern des Beginns mit deren Hyperdifferenzierung des Parameters Klangfarbe in Verbindung mit einer subtilen mikrotonaler Harmonik bis hin zum komplexen Klanggemisch und Geräusch, die nicht etwa i.S.e. Ausgeburt eines selbstgefälligen Kolorismus o.ä. verwendet werden, sondern die vielmehr mit den bestimmenden kompositorischen, strukturell-konstruktiven Prinzipien in vielfältige wechselseitige Kausalbeziehung treten und so in ständig neuer, sich verändernder Weise das Werk bestimmen ...

... oder in Gestalt des vexierenden Spiels mit unterschiedlichen Präsenzgraden struktureller Prozesse in der sich anschließenden ‚Fantasie – Figurenphase’ ...

... oder aber im nachfolgenden fluktuierenden Hyperklangnetz, das auf einem 52-stimmigen, absolut fixen Klang beruht, der als solcher strikt beibehalten wird (also statisch ist) und damit letztlich alles Geschehen in sich bindet, dessen kompositorische Umsetzung / Ausgestaltung jedoch zugleich extrem vielfältig erfolgt: sich ständig wandelnde Kombinatorik der Einzeltöne, auf der Ebene der Klangfarbe hochgradig multipel fluktuierend ...
... ein Moment größter Freiheit und größter Gebundenheit zugleich also ...
... und letztlich eine Erweiterung der Systematik durch die gewollte Überschreitung derselben
... "ein und denselben Satz zugleich bejahen und verneinen" ... "Zauber der entgegengesetzten Denkweise"
und daraus resultierend: Freiheit, Befreiung ... Bewegung... Überschreitung ...

...bis hin zu jenem plötzlichen Moment des Zerplatzens, Zerreißens, Zerspringens ... – Umherfliegen von Splittern, deformiert, denaturiert -

... das Fragmentarisch-Punktuelle bei gleichzeitigem (durch die verwendeten Spieltechniken bedingten) in – den – Hintergrund – Drängen der Tonhöhenpräsenz werden hier plötzlich zum Charakteristischen ...

Enigma-vom Zauber der entgegengesetzten Denkweise ist ein Kompositionsauftrag des Duo 46, New York und diesem gewidmet.

Michael Quell

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Dark Matter (2011)

In der Astrophysik beschreibt Dunkle Materie die Annahme einer Materie, die zwingend notwendig ist, um grundsätzliche Phänomene wie z.B. die deutliche Abweichung der Rotationsgeschwindigkeiten von Galaxien von dem Wert, der aufgrund der bisher angenommenen weil beobachteten Masse unter Voraussetzung der elementaren physikalischen Gesetze erreicht werden müsste erklären zu können. Sie ist damit der zentrale Faktor, der Aufschluss über die raumzeitliche Geometrie und damit natürlich auch über die Zukunft des Universums gibt und auf der anderen Seite als Bestätigung der vorausgesetzten elementaren Gesetze notwendig ist.

Dabei würde diese dunkle Materie, die sich bisher jeglicher Beobachtung entzieht und zu deren möglichen Substanz bzw. Faktur die unterschiedlichsten, teilweise recht wagemutigen Hypothesen – bei denen jedoch keine ohne innere Widersprüche ist – aufgestellt wurden, den größten Teil des Universums ausmachen.

Künstlerisch interessiert mich daran in besonderem Maße dieses geradezu abenteuerliche ästhetische Potential einer Vorstellung, dass das, was das eigentlich Substantielle ausmacht, stets im Verborgenen bleibt, zugleich aber die Welt des Wahrgenommenen in aller subtilsten Differenziertheit steuert (worin zudem auch ein interessanter Bezug zur Bedeutung des Begriffs „Dark Matter“ in der Systembiologie zu erkennen ist). So gestalten sich Form- und Zeitstruktur der Komposition einerseits zunächst im Vordergrund klar, offenkundig schlüssig und stringent, sind aber zugleich an den entscheidenden Punkten immer wieder von völlig unerwarteten – vordergründig gänzlich unerklärlichen – Winkelzügen, Wendungen etc. gekennzeichnet und formen dennoch und zugleich ein im Innern zutiefst kohärentes Ganzes.

Musikalische Ausgangs- oder besser Initiationsidee des Werkbeginns bilden dabei die Elemente Impuls und (dessen) Nachklang, wobei auch diese Urelemente bereits von Anbeginn alle, sich nach und nach bis ins annähernd Unendliche auswachsenden inneren Differenzierungen in sich tragen. Im weiteren Verlauf formen diese Elemente immer differenziertere Klangflächen aus, mutieren zu auskomponierten Flächen von Schwebungen, bilden schließlich Gestalten, die jedoch bewusst nur in ausgewählten Momenten zaghaft an die Oberfläche, in die Welt des Evidenten treten, überwiegend jedoch die innere Faktur der musikalischen Gesamttextur bestimmen, um dann im groß angelegten Mittelteil schließlich in die völlig andere und dennoch letztlich durch die gleiche „Materie“ bestimmte Welt subtil fluktuierender, hyperdifferenziert intern gesteuerter multiphoner und spektraler Klangflächen zu münden … dabei extreme Zeitdehnung, Ansatz der Auflösung des Raum – Zeit – Kontinuums … und schließlich völlig unerwartetes Einsetzen des Schlussteils mit vordergründig gänzlich anderer Faktur, dennoch und zugleich aber im Innern kohärent.

Auch auf der Zeitdimension: Spannung eines enormen, am Rande des Möglichen sich befindenden Bogens zwischen Hyperdichte, einer Art „musikalischen Plasmas“ und extremer Dehnung bis hin zur momenthaften Wahrnehmung einer Art Zeitauflösung … dabei schon ein wenig an Gunnar Ekelöfs „Kunst des Unmöglichen“ denkend …

Dark Matter ist ein Kompositionsauftrag des Trio Aventure und diesem gewidmet.

Michael Quell

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Achronon (2008/2009)

Gedanklicher Ausgangspunkt der Komposition ist die Beschäftigung mit den Kategorien Zeit und Raum, jedoch in einer sehr spezifischen Art und Weise, die letztlich in der Gedankenwelt des Kulturphilosophen Jean Gebser ihren Ursprung hat. Gebser bezeichnet mit dem Begriff Achronon den Zustand der Zeitfreiheit, der durch das gleichzeitige wirksam-Werden unterschiedlicher Zeitbewusstseinsebenen (und damit der Überwindung der Zeit) gekennzeichnet ist und untrennbar verknüpft ist mit der Kategorie der Aperspektive, wobei hiermit keineswegs etwa ein vorperspektivisches Bewusstsein etwa des archaischen Menschen gemeint ist, sondern vielmehr eine Art ‚Überwindung des Raums’ im Sinne einer weiteren Bewusstseinsstufe, deren Charakteristikum neben der Zeitfreiheit (Achronon) die Überwindung der gegenüber-seienden Welt des perspektivischen Zeitalters darstellt, eine Art „Welt ohne Gegenüber“ eröffnend und damit auch den Subjekt-Objekt-Dualismus übersteigend.

So gestaltet sich bereits der Beginn des Stückes zugleich als ein Anfang – durchaus im Sinne einer Initiation eines sich entwickelnden Prozesses – und zugleich als ein Nicht-Anfang, als eine Art Einstieg in eine quasi bereits laufende Entwicklung bzw. in eine bestehende Struktur.

Ebenso erweist sich die Werkstruktur als Ganze als eine, die einerseits organisch-entwickelnden Charakters, zugleich aber auch statischer und in gewissem Sinne (zeitlich) zyklischer Natur ist, wobei die auf der einen Ebene symmetrisch erscheinende Formkonzeption durch ständige formale Winkelzüge und völlig unerwartete formal-strukturelle Wendungen auf der anderen Ebene ebenso gekennzeichnet ist wie von der scheinbaren Antinomie der beginnenden Dialogsituation von Akkordeon und Gitarre und des weiten Universums an Klang-Räumen im großen Mittelteil der Komposition.

Auf der inneren strukturellen Ebene arbeitet das Werk mit Elementen, die einerseits als ‚Gegenüber’ wahrzunehmen sind, zugleich aber auch als ‚Nicht-Gegenüber’.

Zentraler Aspekt der Komposition ist eine sehr eigene, spezifische Räumlichkeit, die ich einmal als eine innere, imaginäre Raumperspektive bzw. Räumlichkeit nennen möchte und die durchaus in gedanklichem Bezug zu Gebsers ‚Aperspektivität’ steht.

Neben dieser konzeptionellen, inneren Räumlichkeit ist für das Werk aber zugleich auch eine ‚äußere’ Räumlichkeit charakteristisch, natürlich nicht vordergründig etwa im Sinne von Raum als bloßem Ereignisort o.ä., sondern vielmehr in einer darüber hinausweisenden strukturellen und zugleich ästhetischen Dimension, so z.B. bereits durch die spezifische Behandlung der beiden, so heterogenen Instrumente Akkordeon und Gitarre, jedoch nicht etwa als bloße spieltechnische Erweiterung auf einen etwaigen Kolorismus schielend aufgefasst, sondern vielmehr diese über weite Strecken hinweg durchaus etwas atypische Instrumentalbehandlung nutzend für eine neue, erweiterte Korrelation, die – nicht nur in ihren spezifischen Gitarre arco-Akkordeon-Verschmelzungen – neben der inneren auch explizit eine nach außen hin tretende Räumlichkeit gebiert, stets in Korrelation zu den inneren, strukturellen, syntaktischen Prozessen – und natürlich deren semantischen Dimension – und in einer jeweils sehr charakteristischen, gänzlich eigenen, neuen Art und Weise.

Diese – auf der äußeren Erscheinungsebene – Suggestion von Raum, die zugleich mit den inneren strukturellen Prozessen wesenhaft verknüpft und letztlich Resultat dieser ist, lässt eine deutliche gedankliche Nähe zu Gebsers Vorstellung der Aperspektivität unmittelbar erkennen und gibt zugleich den Blick frei auf die innere imaginäre Perspektive des Raums in der Komposition. … Raum-Zeit … Dialyse dieser tradierten Kategorien und letztlich …Öffnung für eine hinter diesen liegenden neuen Perspektive von Zeit und Raum.

Michael Quell

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anisotropie - (vier) (aggregat)-zustände für Klavier (2001)

... vier je unterschiedliche Materialzustände und deren vermeintlich klare Ausformung, doch ... immer wieder - kaum merklich - kleinste Verbiegungen, Krümmungen, Wendungen in der scheinbaren Marginalität des Randes ... zumindest aber untergründig, hintergründig ... die sich dann aber als wesentlicher Teil der eigentlichen Werksubstanz entpuppen ... minimale Abweichungen des vordergründigen Systems also, die jedoch letztlich den eigentlichen Wesenskern des Gesamt- - oder Hypersystems (?) – substantiell bestimmen

... und zwar Verbiegungen nicht nur im Material selbst, sondern natürlich auch ausgeweitet auf den Modus dessen Formung ... der inneren Verflechtungen, Vernetzungen ...

Anisotropie eben, in der Astrophysik schließlich inzwischen fast schon zum Synonym geworden für die Suche nach jener Mikrovarianz innerhalb der kosmischen Hintergrundstrahlung, die Aufschluss über Zustand und Entwicklung des Raums zu geben verspricht ...

So entspringen z.B. natürlich auch die teilweise im Innern des Flügels ausgeführten Techniken keineswegs etwa dem Dunstkreis angestaubter Selbstgenügsamkeit o.ä., verbleiben sie doch nicht auf der nur allzu oft vorzufindenden eher äußerlichen, vordergründigen oder gar aktionistischen Ebene; vielmehr gräbt sich innerhalb der Komposition die spezifische Syntax dieses Materials in das an den Tasten erzeugte konsequent ein, transformiert und bestimmt schließlich dessen ureigenste Struktur und wird damit vom vordergründig Akzidentiellen zum eigentlich Substantiellen.

Solche und andere Wechselwirkungen ursprünglich differenter Materialebenen sind es demnach, die einen wesentlichen Teil der Werksubstanz bilden.

anisotropie - (vier) (aggregat)-zustände für klavier ist ein Kompositionsauftrag des Audi-Kulturfonds für das Internationale Pianoforum ... antasten ... Heilbronn 2001 und wurde von Sven-Thomas Kiebler uraufgeführt.

M. Q.

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energeia aphanés I (2013)

Dunkle Energie dient in der Astrophysik als hypothetischer Erklärungsversuch der beobachteten zunehmenden Ausbreitungsgeschwindigkeit des Universums, die ansonsten in deutlichem Widerspruch zu den anderen bekannten Größen steht. Diese Energie konnte bisher nicht nachgewiesen werden, sie selbst entzieht sich jeglicher Beobachtung, bestimmt jedoch ebenso wie dunkle Materie ganz wesentlich die raumzeitliche Struktur des Universums. In der Komposition wird diese Vorstellung gleichsam zum Sinnbild einer musikalisch ästhetischen Welt, deren eigentliche Steuerungsprinzipien konsequent im Verborgenen bleiben, deren Resultate jedoch die Erfahrungswelt bestimmen. Raum, Zeit und die Vorstellung von Zeit-Auflösung, wenn man so will von der Ahnung einer Art Metazeitlichkeit spielen dabei eine zentrale Rolle. Dabei lässt der Werktitel energeia aphanés im Sinne einer nicht sichtbaren, unbekannten, sich nicht zeigenden Energie über seine physikalischen Implikationen hinaus auch eine gewisse Neigung zur griechischen Philosophie erkennen. Energeia aphanés I ist der erste Teil eines größer angelegten Werkzyklus.

Michael Quell

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Meister Eckhart und Suhrawardi: Der Klang der Schwinge des Gabriel - hikmat al-ishraq (2017)

Hartnäckig hielt sich in der westlichen Philosophiegeschichtsschreibung die Legende vom Ende der arabischen Philosophie mit dem Tode Averroes im Jahr 1198. Zwar wurde die enorme Bedeutung arabischer philosophischer Schriften für die lateinische Scholastik im Kontext der Übersetzungen der Aristoteleskommentare aus dem Arabischen durchaus gesehen, dennoch wurde sie klischeehaft auf ausschließlich diese Brückenfunktion reduziert. Die Erkenntnis, dass es sich hierbei um eine völlig eigenständige, auf der Grundlage aristotelischer Logik stehende Philosophie handelt, die voll und ganz auf Augenhöhe zu der der westlichen Welt steht und mit dieser bis ins 19. Jh. hinein weitgehend parallel läuft, hat sich hingegen in Europa erst in den letzten 15 Jahren wirklich etabliert.
Die Gestalt Al-Suhrawardi (Abu I-Futuh Shihab al-Din Yahya ibn Habash ibn Amirak al-Suhrawardi, 1154-1191) fasziniert mich dabei in besonderer Weise. Einerseits erweist er sich insbesondere in dessen Hauptwerk, dem hikmat al-ishraq (Philosophie der Erleuchtung) als der präzise analytischer Denker, der die gesamte antike Philosophie rezipiert hat und in seinem zweifelsohne ausgesprochen komplexen philosophischen Gedankengebäude zu ganz eigenen Lösungen kommt, die bisweilen durchaus weit in die Zukunft weisen ( wie z.B. dessen Materiekonzeption).
Andererseits und zugleich betritt er in seinen allegorischen Erfahrungstexten einen ganz anderen Raum, es ist der des Sufi und des Mystikers wie etwa in Avaz-i par-i Djabra’il (der Klang bzw. das Rauschen der Flügel des Gabriel). In dieser Angelologie postuliert er über die bisherigen sieben beschriebenen Himmelshierarchien hinaus eine achte, die über ein (hypothetisches) weiteres Sinnesorgan zu erreichen wäre. Diesen Sinn nennt er aktive Imagination. Diese öffne „einen Weg der Erkenntnis, der den Menschen über sein zeiträumliches Bewusstsein hinaus“ führe.

Es ist gerade die Ambivalenz dieser beiden, zunächst erst einmal so gegensätzlich anmutenden Bereiche und Konzepte in Suhrawardis Denken, die mich dabei künstlerisch in hohem Maße inspiriert und die zur eigentlichen Triebfeder der Komposition wird. Hinzu kommen die auffallenden Bezüge zum aus heutiger Perspektive in vielerlei Hinsicht ausgesprochen modernen Denken des christlichen Mystikers Meister Eckhart (1260-1327) und dessen Ideen zur Überwindung des Eigenwillens sowie auch und gerade des Postulats der Einheit von Gott und Mensch, bei gleichzeitiger klarer Differenz des Zeitdenkens beider.

So erwächst zu Beginn des Werks aus dem vermeintlichen Nichts heraus bzw. aus einem Minimalmaterial, einem gleichmäßig in Vierteln repetierten Ton d nach und nach ein zunehmend komplex strukturiertes Netzwerk, das einerseits das 1/6-tönige Ton- und Klangmaterial immer weiter erschließt und sich andererseits auf rhythmischer Ebene stets weiter verzweigt. Nach dem plötzlichen Umkippen dieser Entwicklung in eine Phase sehr dichter kammermusikalischer Interaktion, die schließlich in eine aperiodische Zirkulationsbewegung und später in einen Part, den man am ehesten als spektrale Klangsinfonie über den Ton Es1 bezeichnen könnte, mündet, erweisen sich diese zunächst vordergründig klaren formal-strukturellen Entwicklungen, die auf den ersten Blick an einen Leitstrahl europäischer Provenienz erinnern, zunehmend und zugleich immer wieder als zyklisch, mit der altorientalischen Vorstellung eines Kreislaufdenkens der Zeit verknüpft.

Ganz Ähnliches wie das zugrundeliegende Zeitkonzept gilt für das Verhältnis von Linearität und (verselbständigtem) Klang, für Statik und Dynamik, Struktur und Strukturauflösung sowie für Zeit und Zeitlosigkeit innerhalb einer sehr speziellen, multipel verzahnten Gesamtdramaturgie.

Michael Quell

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Momentaufnahmen / Caprichos – Reflexionen zu Goya ... und darüber hinaus ... (2004)

... Momente, Augenblicke ... angeregt durch Goyas phänomenale Caprichos, doch sich unmittelbar im musikalisch eigenen Kosmos neu, weiter ... losgelöst ... formend, entwickelnd ... schließlich selbst übersteigend ...

so etwa in „Nadie se conoce“ (der ’Welt als Maskerade’), einer Art musikalischen Reflexion über Substanz und Akzidenz, die zur künstlerischen Triebfeder der musikalischen Form wird und die Komposition ganz wesentlich aus den immer wieder auftretenden unterschiedlichsten Er-Scheinungsformen ein und desselben Materials leben lässt ... dem ständigen Schein des Anderen, das letztlich substantiell aber dennoch immer das Gleiche bleibt ... jedoch stets strukturell verdeckt, verborgen ... fast schon einer Art Selbstvergessenheit des eigenen Materials entsprechend.

... und dabei zugleich ... eine ständige Lust an hyperdifferenzierter konstruktiv-kompositorischer Entfaltung verspürend, feinsten Licht –Schatten-Nuancen ... Faszination der Aquatinta (?)

... das Moment des Verstellten, Verzerrten, Verdrehten als Grundcharakteristikum der konkreten Materialausformung jedoch immer bestehen bleibend, die Komposition bestimmend, natürlich nicht etwa nur eher vordergründig z.B. auf der Ebene der Spieltechnik, sondern vor allem mit Blick auf die inneren strukturellen Vorgänge und Beziehungsgeflechte innerhalb des Stücks ... und dabei immer wieder völlig unerwartete Irr-, Seiten-, Umwege ... Verästelungen oder ... schnitthaftes Aufblitzen von Neuem .../ Bekanntem?

... oder im ultrakompakten „Tantalo“ die Idee des Ringens gegen das eigene Unvermögen als strukturbildende Kraft entdeckend – in eine ganz andere Richtung denkend als es der erste Blick auf Goyas Capricho zunächst nahezulegen scheint – ein Satz, dessen schnittartige Wechsel zwischen Elementen maschinenhafter Unerbittlichkeit und immer wieder eingesprengten kurzen Phasen einer – auf einem mikrotonalen passus duriusculus beruhenden – sich befreien-wollenden Welt der Klangphantasie für einen kurzen Augenblick den dezenten Ansatz des strukturellen, klanglichen und gestischen Auflockerns erkennen zu lassen scheinen ... jedoch bei rasch zunehmender Kraft, Energie, Dichte und innerer Beschleunigung ... zugleich auch ein immer stärkeres Verengen der materialen Struktur ... und ... am letzten Punkt des komponierten an-sich-Scheiterns ... hineinstürzend in ein sich immer weiter verdichtendes strudelartiges Rasen und schließlich ... unausweichliches in-sich-Zusammenbrechen im eigenen, quasi gegen unendlich laufenden Gravitationsfeld der Form

oder „Lo que puede un sastre“, dessen klar definierte, fixe Klangmaterialien – deren Modifikation und Kombinatorik sich stets wandeln – letztlich eine maximale Diversizität des an sich aber streng identischen Materials mit sich bringen ... eine Art kompositorische ’Verkleidung’ der Substanz und damit einhergehende strukturelle, komponierte Statik – von immer wieder eingefügten Phasen (scheinbarer) klanglich-materialer Erweiterung unterbrochen –

... bis hin zum plötzlichen und unerwarteten Umkippen des Satzes in das völlig identische Material von dessen Beginn, jedoch in (mitttels Spieltechnik) stark modifizierter Erscheinungsform.

und schließlich in „El sueño de la razon...“ (den Traum dem Schlaf der ???? etwas vorziehend, letztlich beide aber zugleich substantiell auf einer utopischen Ebene synthetisierend) die objektivistischen Strukturprinzipien – Fibonacci (scheinbar) stets konstruktionslüstern im Hintergrund schwebend – von Anfang an brechend, biegend, verformend ... Objektivität von Beginn an also ausschließlich als Approximation ... und natürlich Deviation und dabei ... systematische Erweiterung des Raumes durch die Kategorie des Kontradiktorischen ... Welt geduldeter ’gegenläufiger Vorstellungen’ oder ... Augen-Blicke einer Welt kategorial-kontradiktorischer Metroplexe ... Vernunft (?) ... dabei ... Gebsers integralen (Bewusstseins-)Welten – als Nemesis (?) – begegnend ...

Momentaufnahmen / Caprichos – Reflexionen zu Goya ... und darüber hinaus ... sind Jürgen Ruck gewidmet.

MQ

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Anamorphosis II (-Polymorphia) (2002/ 2003)
für Flöte (Bassflöte), Oboe, Klarinette (Bassklarinette), Klavier, Schlagzeug, Violine, Viola und Violoncello

Die Komposition Anamorphosis II (-Polymorphia) besteht aus einer Folge von 10 selbständigen und zugleich vielfältig miteinander verzahnten Teilstücken (Teil 8 gliedert sich zudem nochmals in 5 Subteile) und ist in einer Art teiloffenen ’Spiegelform’ angelegt, wobei sich deren anamorphotische Polymorphie in der Spiegelung zweier unterschiedlicher Fassungen ergibt, die bei der Aufführung einander gegenübergestellt werden.

Dabei erfolgt die spezifische Ausformung der einzelnen Teile bei gleichzeitiger ausgeprägter innerer Materialkohärenz höchst disparat und zwar auf allen Ebenen (von fast schon ’organisch’ sich zu entwickeln scheinenden Teilen zu statisch – mechanistischen, von Zeitverdichtungs- und Zeitimplosionsmomenten zu maximaler Zeitdehnung oder einem ’Aus-der-Zeit-Fließen’ und natürlich ’die Welt der Mischungen’, das ’Verdrängte der Philosophie’, das zum eigentlich Künstlerischen wird; selbstverständlich auch gänzlich unterschiedliche Gestaltbildungsmodi: strukturelle, gestische, emphatische etc.) – aber auch auf der an sich kohärenten Protomaterialebene selbst immer wieder feinste Verästelungen, Verwebungen ... ein Herausfließen aus dem selbst gegebenen Kosmos innerer Materialstimmigkeit bei gleichzeitiger ständiger Dilatation des musikalischen Ereignishorizonts.

In Version A werden die 10 Teilstücke vom Ensemble in der gegebenen Reihenfolge attacca gespielt (die Subteile 2-4 können aber auch hier frei kombiniert werden), wobei das Ensemble sich zunächst komplett auf der Bühne befindet, ab dem 4. Stück jedoch eine bestimmte Raumposition einnimmt – Klänge werden im Raum überblendet, gemischt, umgeformt ... aber auch gleichermaßen diverseste Gestaltbildungen ereignen sich im und erst durch den Raum, entwickeln ihre spezifische Charakteristik, ihre eigentliche Identität im Raum als kompositorische Kategorie; Raum also nicht nur als bloßer Ereignisort, sondern in der ganzen Bandbreite seiner hermeneutischen Dimension ...

Version B wird vom Ensemble bei jeder Aufführung neu gefunden, indem es die Abfolge der auch hier attacca zu realisierenden Teilstücke inklusive der Subteile nach künstlerischen Kriterien und Erwägungen nun neu wählt. Zudem befindet sich das Ensemble in der B-Version durchweg in einer – hier aber veränderten – Raumposition. Die unterschiedlichen Abfolgen sowie die modifizierten Raumkonstellationen evozieren substantiell gänzlich andere, zuvor unerahnbare, völlig neue Sinnbeziehungen des zuvor nur vermeintlich Bekannten ... immer wieder also eine neue formale, strukturelle und zugleich energetische (wenn man so will ’dramaturgische’) Gestalt ...

... die eigentliche Werkgestalt ereignet sich im Augenblick des Aufeinanderprallens von A- und B-Version im wahrnehmenden Subjekt jeweils immer wieder völlig neu ... der Rezeptionsakt als eine Art schrittweisen weiteren Auf-Faltens der multidimensionalen Werkstruktur, des immer weiteren Ent-Deckens bei gleichzeitiger grundsätzlicher Unerreichbarkeit (wollte ein Ensemble alle ca. 10,5 Mrd. möglichen Werkgestalten spielen, so benötigte es etwa 700.000 Jahre.)

... anamorphosis eben ... im Umdrehen sieht man ihren Grund.

M. Q.

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temps et couleurs I (1995)
für Flöte und Gitarre

... Farbe... nicht nur tradierter musikimmanenter Kristallisationskeim des Suchens nach neuen Klang- und Wahrnehmungsräumen... sondern durch wechselseitige Verquickung mit den Kategorien (zeitlicher) Nähe, Da-Sein, Gegenwärtig-Sein und Ferne, Entfernt-Sein... ihr spezifisch-eigenes, sich-selbst-transzendierendes Potential entdeckend... und... verbunden mit einer Projektion der Kategorie Zeit über deren immanente Schlüsselfunktion hinaus auf die Dimension der Geschichte, zu einem psychologisierend-spannungsvollen Spiel mit der Illusion der (mentalen) Vergegenwärtigbarkeit von Vergangenheit werdend und letztlich... Zerplatzen, Verpuffen dieses Traums in Gestalt komponierter Desillusionierung...

... so z.B. der Blick auf die zugrundeliegende ‘musikalisch-historische Ruine‘ eines mittelalterlichen Hymnus, der verfremdet, verschwommen, denaturiert, in zeitgenössische Ton- und Klangsprache mutiert das Stück durchzieht, in mehreren spezifisch gestalteten Prozessen sich verführerisch nähert, sich konkretisiert bis hin zum Aufblitzen in reiner Urgestalt... jedoch unmittelbar zerberstend, verpuffend – Zersplittern des ‘Geschichtsspie-gels‘ – sich blitzartig entfernend, verschwimmend, als unwiederbringliches (fraktales) Relikt erweist und damit den Charakter einer ‘sich auflösenden Illusion‘ annimmt, um kurz darauf in anderen Räumen der Seele wiederzukehren, wiederzuerstehen...

... zeitliche Wahrnehmung als intrasubjektive Projektion hochrückgekoppelter Zerrbilder (mentaler) Ruinen fraktaler Geometrie... (?)

Die Realisierung dieses Ansatzes machte teilweise eine Ausweitung der spieltechnischen Möglichkeiten der Gitarre notwendig, so z.B. eine eigens entwickelte mikrotonale Gitarrentechnik, die das klangliche Spektrum dieses Instruments und das entsprechende kompositorische Potential enorm erweitert.

M. Q.

temps et couleurs I temps et couleurs I
M. Roth und J. Ruck, temps et couleurs I Probe mit M. Quell

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Ekstare (1988/ 1990)
für Flöte, Oboe, Violine, Bratsche und Cello

Ekstare entstand 1988 im Auftrag des Ensemble Recherche Freiburg. Der Titel knüpft an Heideggers Ruf der Sorge an, wobei der Rufer „das im Grunde seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein..., das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-Sein als Un-zuhause“ meint, das zu dem „in der Angst enthüllten Seinkönnen seiner selbst“ aufruft. Hierin kommt nicht nur die Angst des Daseins um sein Seinkönnen zum Ausdruck, sondern wird auch die Spannung des Existierens als „Ekstare“, als ein Hinausstehen deutlich, und zwar als ein lebendiger Vorgang, in dem der Mensch sein Sein als Mit-Sein sucht.

Dieser Gedanke schlägt sich in der Disposition des musikalischen Materials, in der formalen Konzeption (der Makro- und Mikrostruktur) und im Modus des Komponierens selber nieder.

Zu Beginn der Komposition verlaufen die musikalischen Vorgänge quasi präfigurativ. Es wird konsequent vermieden, die große Zahl von Einzelereignissen zu spezifischen, abgeschlossenen Figuren kristallisieren zu lassen, wobei jedoch Beziehungen zwischen den einzelnen Bruchstücken gehört und ein im Hintergrund liegender Zusammenhang erahnt werden kann.

Tatsächlich sind in dieser Anfangsphase hochkomplexe Gestalten vorhanden, die auch gehört werden könnten, wenn sie sich nicht unterhalb der Oberfläche des Erscheinenden bewegten. Sie sind entfernt und ihre Erahnbarkeit ergibt sich (bei gleichzeitiger Unerkennbarkeit) aus den durch die Systeme regulierten Bruchstücken, die die Welt der Oberfläche ausmachen. Das ändert sich jedoch sehr bald im Verlauf der Komposition, die einem spezifisch gestalteten Prozeß des Gegenwärtig-Werdens, des Konkret-Werdens und des Gestalt-Werdens entspricht, also einem Prozeß, der das Seiende ins Dasein ruft. Der Prozeß vollzieht sich nicht linear, sondern in unterschiedlichen Figuren-Phasen oder besser Figurations-Phasen mit je verschiedenen Modi der Gestaltwerdung. So weist beispielsweise die erste Figuren-Phase eher strukturelle Gestaltwerdung auf, während die zweite gestische Figuren und Gestalten integriert.

Die Phase der Gestaltwerdung, des Gegenwärtig-Werdens, ist mehrfach durch „Phasen des Abtauchens“ unterbrochen, wird jedoch bis zu jenem Punkt verdichtet und intensiviert, an dem das Ringen zwischen Seiendem und Da-des-Seins keine Fortsetzung mehr haben zu können scheint.

M. Q.

Ekstare
Ensemble SurPlus, Ltg. James Avery, Ekstare

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Satori - 5 Haiku (1999)
für Gitarrenorchester

Satori – im Japanischen Inbegriff des Erkenntnis-, Erlebnisaugenblicks im Sinne eines urplötzlichen Be-Greifens, Er-Kennens, Er-Fahrens in aller Tiefe und zwar nicht so sehr als Ergebnis oder kausaler Endpunkt einer aktiv und bewusst darauf hin angelegten Gedankenkette oder dgl., sondern in seiner Momenthaftigkeit, Augenblicklichkeit einem vielmehr völlig unerwartet zu-fallend - ...

... hier als eine Art komponierter Augenblick, der nach einem umfangreichen Prozess des sich-Annäherns bereits wieder vorüber (ent-fernt) ist, ehe er hätte verweilen können (sozusagen Präsenzzeit als Grenzwert gegen Null) – und dennoch etwas über diesen Momentcharakter Hinausgehendes, Bleibendes hinterlassend ... eine Art ebenfalls augenblicklichen Freisetzens einer völlig neuen, ungeahnten Tiefenwahrnehmung... in Gestalt etwa des ‘Komponierens eines sich wendenden Blattes‘ ...

... die einzelnen Sätze nehmen also ungeachtet all ihrer aphoristischen Kürze, Kompaktheit und Momenthaftigkeit jeweils nach einer spezifisch gestalteten, organisch schlüssig anmutenden, vielschichtig-differenzierten und zugleich durchaus zielgerichteten Entwicklung gegen deren Ende, an einem ganz bestimmten Punkt eine völlig un-geahnte – aus dem bisherigen Kontext nicht erwartbare bzw. erahnbare - Wendung ein, wie das augenblickliche Drehen eines zuvor intensiv betrachteten und dabei schrittweise scheinbar immer vertrauter gewordenen Blattes ... und plötzlich durch dessen Umdrehen ... Blick auf völlig neue Strukturen, Beziehungen, Wertigkeiten ... neue musikalisch-formale, strukturelle Qualität ... und damit ... plötzlich doch eine Dauer-haftigkeit, ein Bleiben-Können, Verweilen-Können (Gegenwärtig-Sein) dieses Erlebnis-/ Erkenntnismoments...

... komponierte Augenblicke der Synthese von innerer Schlüssigkeit und völliger Unerwartetheit also und deren Perpetuierung - zumindest aber Dehnung, Verzeitlichung... Gegenwartsprolongation ... und ... ein Spiel mit Zeit - Dramaturgie auf allen Ebenen; bewusst verschobene, aus dem Lot gehobene Symmetrien – ... somit keine schlichte Erfüllung von Goldene-Schnitt-Uniformismen ... sondern ... komplex vernetzt komponierte Zeitstrukturen wurden hier erforderlich ... neue Zeit-, Moment-Räume ... Räume der (Nicht-) Stille ...

M. Q.

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inside ... out – hommage à R. Barthes, P. Feyerabend, Diogenes u. die Kyniker (1997)
für großes Orchester

Komponieren im Kontext einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Kunst selbst sich längst vielfach (unmerklich?) zu einem Instrument der Bedienung des Apparates hin bewegt hat, zumindest aber zu einer Art Erfüllungsgehilfen der Welt der Institution... die omnipotent ... und zugleich brüchig geworden, in schmucken Glastempeln postmoderner Eiszeit unaufhörliche Riten der Selbstverehrung zelebrierend (wiederum unmerklich?!)... dabei im Zustand des Um-Sich-Selbst-Kreisens dennoch nahezu alle gesellschaftliche Existenz zu binden sich anschickt... in einer Welt also, in der Existenz nur noch in der Redundanz einer Sphäre monokloider, universal-uniformer Komplexe gegeben scheint... ?

–... auch Theodor Wiesengrund hat’s nicht verhindern können ... aber Roland Barthes entdeckte schließlich den soziologischen Rand... außerinstitutionellen Raum der Marginalität also... ‘Individuum‘ als „Körper, der anstößt an... allen Kollektivismen“ ... Freiheit...

... und dabei natürlich Diogenes, dem Kyniker begegnend... mit seiner programmatischen per - manentia des Finger-in-die-Wunde-Legens...–

„Inside ... out“ versucht diesem Problemkomplex auf mehrerlei Weise zu begegnen, so z.B. durch die konsequente Haltung der Verweigerung – eine Verweigerung gegenüber jeglichem Design nett gestylter Klangfassaden (professionell–reizvoll dekorierter Leere) ebenso wie gegenüber abgegriffenen Standards der Musikgeschichte (also keine eklektizistische Ausbeutung von Musikgeschichte als self-service-Gemischtwarenladen)... zugleich aber die Chance des hierdurch geöffneten neuen Raumes zur konsequenten subtilen Gestaltung der hochdifferenzierten Innenwelt von Klang und Struktur nutzend, ohne aber in der abgeschotteten Welt des Innern (und damit hinter Fassaden verborgen) zu verweilen, sondern sich zugleich in unterschiedlichen Phasen radikal nach außen kehrend, um quasi als Regulator die freigewordene Welt des Außen nun neu nach den Gesetzen des Innen zu gestalten – inside ... out eben, jene spannungsvolle Ambivalenz zwischen Innen und Außen, bei der die Fassade schließlich durch differenzierte Substanz ersetzt wird...

... so entfaltet sich z.B. das Stück aus einem einzigen Ton heraus, dessen Inneres in fast unmerklicher Feinheit verändert, gestaltet wird, bis diese Entwicklung dann nach und nach ins Bewußtsein des Hörers dringen kann und schließlich den musikalischen Kosmos des ganzen Werkprozesses gebiert.

Dieser ästhetische Ansatz macht natürlich einige kompositorische wie auch instrumentatorische Besonderheiten notwendig, so verlangt z.B. der notwendigerweise hyperdifferenzierte Parameter Klangfarbe den Musikern naturgemäß eine Vielzahl neuerer und auch gänzlich neuer Spieltechniken ab, auf harmonischer Ebene wird eine Öffnung des mikrotonalen Raumes (Vierteltönigkeit) ebenso notwendig wie z.B. die konstruktive Thematisierung der soziologischen Rolle des Musikers selbst und dessen kritisch reflektierte Auseinandersetzung mit seiner eigenen instrumentalspezifischen Tradition.

M. Q.

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Interdependenzen (1998)
für Gitarre und Schlagzeug

... im Aufeinanderprallen unterschiedlichster (instrumentaler Sprach-) Welten – als solche bestimmt durch den ganzen stets mental mit sich geschleppten Ballast ihrer je eigenen ästhetischen und systemgrammatischen Tradition – immer wieder völlig neue Systeme mit eigener spezifischer syntaktischer und ästhetischer Sinnstruktur hervorbringend, die wiederum in bisweilen kontradiktorischen Verhältnissen zueinander stehen, sich in ihrer oberflächlich betrachtet eigenen Widersprüchlichkeit zueinander gegenseitig auszuschließen scheinen ... jedoch durch wechselseitiges In-Beziehung-Treten – ein Interagieren auf einer Metaebene also – wiederum neue (Hyper-) Welten und –Räume zu öffnen und freizusetzen vermögen.

... denn „Wirklichkeit ist prozessual und keineswegs statisch, sie wird und ist wesentlich in der Zeit. Sie ist diskret und heterogen, keineswegs kontinuierlich oder homogen-identisch, sondern gekörnt und in Zellen eingeteilt, deren Besetzungszustand jeweils definiert werden muß. Wirklichkeit ist lokal strukturiert und keineswegs global überschaubar und sie ist Wechselwirkung, nicht an sich seiend, sie ist überhaupt nur, insofern sie auf einen Beobachter (der kein Mensch zu sein braucht) eine Wirkung ausübt und von diesem Beobachter eine Wirkung erleidet.“ (Peter Eisenhardt)

Interdependenzen ist eine Auftragskomposition der „Perspektiven“ Heilbronn und Reinbert Evers und Mircea Ardeleanu gewidmet.

M. Q.

Interdependenzen
Olaf Tzschoppe u. Jürgen Ruck, Interdependenzen

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Substanz und Akzidenz – ein Capricho in Anlehnung an Francisco de Goyas Nadie se conoce (2003)

Das Prado-Manuskript kommentiert dieses Capricho: „Die Welt ist eine Maskerade; das Gesicht, die Kleidung, die Stimme, alles ist verstellt. Alle wollen so erscheinen wie sie nicht sind. Alle täuschen sich selbst und niemand kennt sich.“

Die Komposition lebt ganz wesentlich aus immer wieder unterschiedlichsten Er-Scheinungsformen ein und desselben Materials ... dem ständigen Schein des Anderen, das letztlich substantiell aber dennoch immer das Gleiche ist ... jedoch stets strukturell verdeckt, verborgen ... fast schon eine Art Selbstvergessenheit des eigenen Materials.

... und dabei zugleich ... ständige Lust an hyperdifferenzierter konstruktiv-kompositorischer Entfaltung, feinsten Licht-Schatten-Nuancen ... Faszination der Aquatinta (?)

... das Moment des Verstellten, Verzerrten, Verdrehten als Grundcharakteristikum der konkreten Materialausformung immer bestehen bleibend, die Komposition bestimmend, natürlich nicht etwa nur eher vordergründig z.B. auf der Ebene der Spieltechnik, sondern vor allem mit Blick auf die inneren strukturellen Vorgänge und Beziehungsgeflechte innerhalb des Stücks ... und dabei immer wieder völlig unerwartete Irr-, Seiten-, Umwege ... Verästelungen oder ... schnitthaftes Aufblitzen von Neuem ... / Bekanntem?

M. Q.

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Streichtrio „le son d’un monde secret et couvert“ (1994)

... der Klang einer verborgenen musikalischen Welt, einer Welt der Klänge und Geräusche, befreit von der hypertradierten Dominanz bestimmter musikalischer Parameter und ihrer spezifischen Entfaltungsmodi und damit deren ungeahnte innere Vielfalt erst ermöglichend, freisetzend ... zulassend.

Charakteristisches Merkmal des Werks ist die Suche nach neuen Klangwelten, nach un-erhört neuen Wahrnehmungsräumen und damit untrennbar verbunden das konsequente Sich-Verweigern gegenüber jeglichem abgegriffenen Vokabular und jeder verbrauchten Syntax – wobei die Suche selbst im Mittelpunkt steht und nicht so sehr ihr Ergebnis. Insofern le son d’un monde secret et couvert dabei zugleich auch den „Klang“ einer verborgenen Welt des Denkens meint, wird die Suche auch auf diese auszudehnen sein, auf das Denken un-ge- und un-be-dachter Räume, was die Befreiung von einer längst überlebten und zugleich mit einem institutionalisierten Schein der Unsterblichkeit versehenen dialektischen Linearität notwendig macht – die Befreiung von einer kollektivuniformen Rudimentierung der quasi unendlichen Vielfalt an Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten auf die Omnipotenz einiger weniger „zugelassener“ oder „gültiger“ weil tradierter Parameter, Kategorien und Methoden bis hin zu einem unbemerkt etablierten und verabsolutierten geistigen Monomethodismus oder – wie Paul Feyerabend es beschreibt – einem „Ratiofaschismus der Funktionäre des Denkens“. Nicht geistige Linearität ist somit Wesensmerkmal der Komposition, sondern vielmehr das Wagnis des Eindringens in un-ge-dachte und un-er-hörte Räume – Wirklichkeit als Welt komplexer, deterministisch-chaotischer Prozesse, hochrückgekoppelter Multiparametersysteme, Fraktale ... .

So gestaltet sich der Beginn des Werks als ein Gefesselt-Sein an Einzeltönen und –klängen, einem Ringen nach Bewegung und Entfaltung in neuen Kategorien, um klanglich neue Räume zu betreten und zu erfahren ... dabei verführerischer Drang nach Ausgestaltung eines Gedankens in scheinbar sicherer und vermeintlich lösender innerer Rückwendung zu (schon-) konventionellen, (jung-) tradierten, jedenfalls vertrauten Parameterbehandlungsmodi... – konsequent auskomponierter innerer Widerspruch als Triebfeder weiteren Suchens, Hörens, Gehens (und Denkens); so z.B. der Drang nach musikalisch linear-figurativer Entfaltung, der jedoch durch die Wahl spezifischer Instrumentaltechniken,die eine solche Rückwendung unmöglich machen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist ... bis hin zu dessen sinnentleerter Entlarvung im plötzlichen Aufblitzen eines Relikts (vermeintlich klarer) linear-„melodischer“ Gestalt ... doch unmittelbar darauf ... kurze Verklumpung – Zerbröselung – Zerstäubung ... Zerfließen und Auflösen des Raum-Zeit-Kontinuums (bei gleichzeitiger formal-subjektiver Zeitdehnung)... schließlich ... hineinhören ... Stille ... wahr-nehmen neuer (Bewußtseins-) Welten (?)

M. Q.

Streichtrio
Stefan Häussler, Bodo Friedrich u. Beverley Ellis, Streichtrio

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atremia – Phasen der Stille (1999)
... hesychía ... kinesis ... lysis ...

Atremia, ursprünglich das ’Nicht-Vorhandensein von Zuckungen’, doch hier nur vermeintlich Ruhe, die sehr bald vielmehr zum Raum der Stille wird – eine Art rezeptive, musikalisch-ästhetische Katharsis – deren primäre Reduktion sekundär erst den Weg frei gibt für Farbe, Bewegungen, Wandlungen jenseits vordergründiger Kategorien ...

... Phasen scheinbarer Statik auf der Ebene des Vordergrunds, der sich jedoch schnell als hinfällig erweist, da längst schon im Wahrnehmungshintergrund auf weiterer Ebene sich scheinbar Akzidentielles unmerklich ins Substantielle verwandelt hat und so das scheinbar Marginale zum Zentralen, Wesentlichen werden lässt, um jedoch sogleich wieder abzutauchen und den Blick (das „Ohr“) für weitere kategoriale Wandlungen fei werden zu lassen – eine mehrfache Verzahnung der Kategorien Statik und Dynamik, ein multiples Spiel mit Wahrnehmung und Präsenz also, das seinen Niederschlag nicht nur in der Heteronomie von ... hesychía ... kinesis ... lysis ... findet.

Atremia wurde 2001 in Sofia vom Ensemble GuitArt uraufgeführt.

M. Q.

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Publikationen

Freiheit im Kontext kollektiver Suppression – Günter Schwarzes Streichquartett op. 22. In: Ernst Helmuth Flammer (Hg.), „ … wenn die Wurzeln tief sind, ist der Wind nicht zu fürchten“ – Günter Schwarze und die Meißner Porzellan- und Glockenspiele. Berlin: Simon Verlag 2020, S. 137 – 160.

Kompositorische Strategien im Spannungsfeld von Autonomie und Erweiterung im Zyklus ‚Momentaufnahmen / Caprichos – Reflexionen zu Goya … und darüber hinaus … In: Lukas Christensen und Monika Fink (Hg.), Wie Bilder klingen. Tagungsband zum Symposium "Musik nach Bildern". Neue Innsbrucker Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 1. Berlin, Münster, Wien u.a.: LIT 2011, Seite 221-248.

Zur Ambiguität des Fortschrittsbegriffs am Beispiel Ligetis Hinwendung zur Klangflächenkomposition. In: Ernst Helmuth Flammer (Hg.), Fortschritt, was ist das …? . Hofheim: Wolke 2014, S. 79 – 114.

Zur Relation von theoretisch-wissenschaftlichem Denken und künstlerischem Handeln bei Ernst Helmuth Flammer., In: E. H. Flammer, Schriften zur Musik I, Heilbronn 1999, S.10-21.

Von den Chancen des Neuen - Gedanken zum (noch) schwierigen Verhältnis des Chorwesens zur musikalischen Moderne. In: Programmbuch 4. Chorleiterkongress - Tage Neuer Chormusik, Erfurt 10.-13.3.2005, S. 12-20.

Die Begegnung mit "Neuer Musik" als exemplarische Chance der Synthese von Erleben und Erkennen in einer zeitgemäßen Vermittlung - Vortrag anlässlich des Symposions "Du holde Kunst... Wie aber wird man musikalisch?" in der Akademie für Tonkunst Darmstadt, 27.10.2001, Veröffentlichung im Thiasos Verlag in Vorbereitung

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Bibliographie

Petitpierre, Yvonne: „Zwischen Philosophie und Physik – Der Komponist Michael Quell“. Rundfunkportrait Deutschlandfunk, 28.12.2019.

Kallenberg, Jim Igor: „Vom Weltall zum Viertelton – Der Komponist Michael Quell.“ Rundfunkportrait HR2, 29.11.2018.

Flammer, Ernst Helmuth (2014): „Die Welt hinter den Welten. Grenzüberschreitung – Unendlichkeit: der Komponist Michael Quell.“ In: Musiktexte 141, Mai 2014. S.47-54.

Nonnenmann, Rainer (2013): „Finaler Urknall. Porträt-CD Michael Quell.“ In: Musiktexte 138, August 2013.

Carl, Robert (2012): „Creating a `realized infinity´: Composer Michael Quell“ In: Fanfare Magazine. Tenafly, NJ (USA). Jan/Feb 2012,Vol.35 Nr.3, S.50-62.

Lesle, Lutz (2012): „Michael Quell – Chamber Music“ In: Neue Zeitschrift für Musik (Musik der Zeit). Schott. 2/2012, S.80.

Oesterreich, Helmut: Neue Kompositionen für Gitarrenensemble, Teil I: Satori - 5 Haiku für Gitarrenorchester von Michael Quell, Gitarre und Laute, 3/2000, S.27-37

Hoffmann, B.: Zeitgenössische Kammermusik mit Gitarre - Ein Beispiel für die Chancen der Gitarre in der Neuen Kammermusik, Staccato, 5/1996, S. 34

Hoffmann, B.: Michael Quell: Bewegungbilder, Staccato, 1/1996, S. 42-43

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